Jahrestagung mit wachem Blick für die Menschen und ihre Würde

Aktuelles on 17 May , 2016

lflz

Religion mischt sich ein – auch in die Politik: In kaum einer deutschen Stadt wird das so deutlich wie in Leipzig. Kein Wunder also, dass die religionspädagogische Jahrestagung „Seid wachsam! (1 Kor 16,13) Zum politischen Potential religiöser Bildung“ dieses Jahr im Osten Deutschlands stattfand. Der Blick in die jüngere Geschichte war allerdings nur ein Punkt in einem breit gefächerten Programm. Angesichts der Flüchtlingskrise ging es auch um konkrete Konzepte für die Gegenwart.

Die friedliche Revolution in der DDR hatte einen ihrer Ursprünge in den Friedensgebeten der christlichen Kirchen. Es folgten Demonstrationszüge im Anschluss daran, die immer größer und größer wurden, bis zu dem geschichtsträchtigen 9. November 1989, als die Mauer fiel. Die „Wir sind das Volk“-Rufe klangen wohl noch vielen der 92 Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Jahrestagung in den Ohren, als sie im Hotel Michaelis in der Leipziger Innenstadt eincheckten.

Mit Worten sich Gehör verschaffen

Der erste Abend führte literarisch ins Thema ein. Pater Andreas Knapp von der Gemeinschaft der Kleinen Brüder vom Evangelium in Leipzig stellte sich und seinem Publikum die Frage, wie man als Christ heute in Leipzig noch wachsam sein und in die Gesellschaft hinein sprechen könne, wenn einem Großteil eben dieser Gesellschaft der religiöse Grundwortschatz abhanden gekommen ist.

Bruder Andreas Knapp begeisterte am Eröffnungsabend die Tagungsteilnehmer; Foto: Markus Ladstätter

Bruder Andreas Knapp begeisterte am Eröffnungsabend die Tagungsteilnehmer; Foto: Markus Ladstätter

Bei einer Umfrage unter Leipzigern, ob sie katholisch oder evangelisch seien, antworteten viele „ich bin normal“. Dies zeige das Spannungsfeld, in dem Christen sich bewegen, erklärte Pater Andreas. Seine Lösung: „Es gibt Worte, die uns öffnen – wie ein Passwort.“ Und diese Worte bringt er in Leipzig seit elf Jahren in Gedichten zur Sprache. Nicht in der Abgeschiedenheit einer Klosterzelle, sondern in einer Wohnung eines Plattenbaus. Bei den Menschen und für die Menschen. Wie schwierig diese Aufgabe oft ist kommt zum Beispiel in seinem Gedicht „Palmsonntag“ (aus: „Höher als der Himmel, Göttliche Gedichte“ von 2010) zum Ausdruck.

Musikalisch begleitet wurde Pater Andreas von Schwester Maria Wolfsberger von den Missionarinnen Christi in Leipzig. Die mit internationalen Preisen gekrönte Mundharmonikaspielerin umrahmte die Gedichte an der Orgel und auf der Chromonika.

Themen so setzen, dass auch die letzte Reihe wach bleibt

Um Sprachbarrieren, wenn auch nicht religiöser Art, ging es am Freitagvormittag. Miriam Tscholl vom Staatsschauspiel in Dresden stellte das Konzept der „Bürgerbühne“ vor. Seit 2009 motiviert sie  jede Spielzeit rund 400 Dresdner Bürgerinnen und Bürger zu einem Engagement auf der Bühne vor Publikum. „Das Theater hat das Problem, dass nur noch Anzugträger kommen. Die Mehrheit der Leute erreichen wir nicht“, erklärte Tscholl. Durch das Einbinden von Laienschauspielern, die ihre Freunde und Bekannten mit zu den Aufführungen bringen, werden auch dem Theater Fernstehende erreicht – und nicht nur das: Wachsam beobachtet die Bürgerbühne das Leben und die Probleme in Dresden und greift diese in ihren Inszenierungen auf.

Mirjam Tscholl, Leiterin der Brügerbühne in Dresden, forderte auch die Tagungsteilnehmer/innen zu Höchstleistungen heraus; Foto: Markus Ladstätter

Mirjam Tscholl, Leiterin der Brügerbühne in Dresden, forderte auch die Tagungsteilnehmer/innen zu Höchstleistungen heraus; Foto: Markus Ladstätter

Durch die Stücke beschäftigen sich die Menschen mit Themen, denen sie im Alltag lieber ausweichen oder denen sie ablehnend gegenüberstehen: Migration, Arbeitslosigkeit oder die jüdische Vergangenheit von Dresden sind nur drei Beispiele von vielen. Viele der Menschen, die an einem Stück mitgewirkt hätten, seien mit einem veränderten Blick herausgekommen, erzählte Miriam Tscholl. Die Bürgerbühne sei zwar keine Therapie, wie sie betonte, sie könne die Menschen aber sensibilisieren und Türen öffnen, die zuvor fest verschlossen waren. Viele der Tagungsteilnehmer/innen sahen in den Ausführungen der Theaterregisseurin Parallelen zu Kirche und Religion und so entwickelte sich im Anschluss eine lebhafte Diskussion.

Zeitgeschichte wird lebendig

In den Workshops am Freitag- und Samstagnachmittag konnten die Teilnehmer/innen einen Blick in die Geschichte der DDR und deren Auflösung werfen. Beim Stadtrundgang „Auf den Spuren der friedvollen Revolution“ wurde an markanten Punkten der Leipziger Innenstadt an die historische Entwicklung des Jahres 1989 erinnert. Auf diese Weise wurde für die Besucher/innen Zeitgeschichte lebendig: auf dem Nikolaikirchhof, wo schon im Frühjahr `89 der Ruf nach Freiheit laut wurde; am Augustusplatz, wo im Herbst Massenkundgebungen stattfanden; und auf dem Leipziger Ring,? entlang der Marschroute der Demonstrationen.

Einen weiteren besonderen Ort in Leipzig stellt die „Runde Ecke“ dar. Hier befand sich bis zur Auflösung der DDR eine Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit – der berüchtigten STASI. Bei der Wende besetzte ein Bürgerkomitee den Bau und konnte so die Vernichtung vieler Akten, Dokumente und Gegenstände verhindern, die Aufschluss über die Struktur und Arbeit des Geheimdienstes geben. Irmtraud Hollitzer, Mitglied im Bürgerkomitee Leipzig und damals bei der Besetzung der „Runden Ecke“ dabei, erzählte den Workshopteilnehmer/innen viele erschreckende Details darüber, wie die SED die DDR-Bürger überwachte und sie systematisch ihrer Grundrechte beraubte.

Im DDR-Unterricht war Uniformität in Meinung und Kleidern gefragt. Foto: Markus Ladstätter

Im DDR-Unterricht war Uniformität in Meinung und Kleidern gefragt. Foto: Markus Ladstätter

Nochmals einen anderen Einblick in das DDR-System bekamen die Teilnehmer/innen am Workshop „Zivilcourage – Heimatkunde 1985“. Hier konnte sich niemand entspannt auf seinem Stuhl zurücklehnen. Volle Aufmerksamkeit und Disziplin war gefordert, um sich bei dieser nachgespielten Unterrichtsstunde nicht den Zorn des Lehrers zuzuziehen. Mit originalen Schulbüchern und den damaligen Lehrplänen bemerkten die „Schüler“ schnell, dass es in diesem Rollenspiel auch heute noch eine ganze Menge Mut erfordert, dem Lehrer zu widersprechen.

Wachsamkeit heute

Neben dieser sehr lebendigen Darstellung der Vergangenheit wurden aber auch die Entwicklungen und Probleme der Gegenwart aufgegriffen und mit wachsamen Blick erörtert, diskutiert und eingeordnet. Pater Frido Pflüger, Leiter des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes in Deutschland, führte die aktuelle Situation Geflüchteter weltweit vor Augen und erläuterte die Arbeit des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes, der sich für Abschiebungshäftlinge, sogenannte Geduldete und Menschen ohne Aufenthaltsstatus engagiert. Im Gespräch erzählten die Teilnehmer/innen von ihrer Wahrnehmung der aktuellen Ereignisse, vom eigenen Engagement, aber auch von ihren damit verbundenen Fragen, Ängsten und Sorgen.

Ganz konkret thematisiert wurden dieses Engagement, die Ängste und Sorgen im Workshop „Wachsamkeit im Stadtteil“. Prof’in Dr. Monika Scheidler und Dr. Sonja Angelika Strube zeigten die Situation in Dresden-Strehlen auf. Hier wurden in letzter Zeit wie auch an vielen anderen Orten Unterkünfte für Flüchtlinge errichtet. Es gibt ein Willkommensbündnis, das die Asylsuchenden unterstützt und zwischen Einheimischen und Geflüchteten Vorbehalte und Ängste abbauen helfen möchte. Diese Initiative wird aber immer wieder durch rechtsextreme Tendenzen herausgefordert. Wie man damit umgehen kann und soll, konnten die Teilnehmer/innen in praktischen Einheiten selbst üben und lernten dabei ganz nebenbei, was Wachsamkeit heute bedeutet.

Wachsam für die Gnade Gottes in der Welt

Um „Prophetische Wachsamkeit zwischen Gnade und Notwendigkeit“ ging es im Vortrag von Prof. em. Dr. Ottmar Fuchs aus Tübingen. Anhand von Beispielen aus dem Ersten Testament und einem Exkurs zu Martin Luther zeigte er den Zuhörer/innen, was es heißt, wach zu sein für die Gnade Gottes in der Welt und wie diese Gnade im Leben eines jeden Menschen zum Ausdruck kommen kann. Aber auch die Erfahrung des Scheiterns und die Möglichkeit der Klage zu Gott nahm er ins Wort, ebenso wie die daraus resultierende Erkenntnis der Anerkennung und Annahme durch Gott, ohne eine davor erbrachte Leistung.

Die neue Propstei in Leipzig. Ort einiger Veranstaltungen der Jahrestagung; Foto: Markus Ladstätter

Die neue Propstei in Leipzig. Ort einiger Veranstaltungen der Jahrestagung; Foto: Markus Ladstätter

Das abschließende Fachreferat am Sonntagvormittag hielt Dr. Sonja Angelika Strube, Privatdozentin am Lehrstuhl für Pastoraltheologie/Religionspädagogik an der Universität Osnabrück. „Wie Wachsamkeit zu politischem Handeln führt“ zeigte sie anhand von Schriften der jüdischen, deutsch-amerikanischen, politischen Theoretikerin und Publizistin Hannah Arendt. Eine Grundvoraussetzung dafür sei die Freiheit, so Strube: die Freiheit, Dinge unterschiedlich wahrnehmen und sich darüber austauschen zu dürfen. In totalitären Regimen wie im Dritten Reich oder der DDR sei diese Freiheit unterdrückt und nahezu ausgelöscht worden. Daher müssten immer wieder Orte geschaffen werden, wo Menschen ehrlich das sagen können, was sie denken, und sich mit ihrer jeweils eigenen Individualität in die Gemeinschaft einbringen können. Um die Frage, wo ein solcher freier Austausch stattfinden könne, ging es in der anschließenden Diskussion im Auditorium.

Zwischen all den Vorträgen und Workshops blieb natürlich auch genug Zeit für den Austausch untereinander. Einen musikalischen Leckerbissen boten Paul Hoorn und sein Ensemble mit seinem Konzert „Mein Name ist Mensch“. Für spirituelle Impulse sorgten die Morgenbesinnungen in verschiedenen Leipziger Kirchen und die Sonntag-Vorabendmesse in der Propsteikirche St. Trinitatis mit Pater Fridolin Pflüger und Propst Gregor Giele.

Martin Jarde